Die Französische Revolution als Vorstufe des Anti-Sozialismus

SYNERGON/STOCKER VERLAG (GRAZ)/NOVEMBER 1994

Robert Steuckers:
Die Französische Revolution als Vorstufe des Anti-Sozialismus
Warum sollte man sich ständig über die Vergangenheit und die frühere Entwicklung des Sozialismus Fragen stellen, besonders wenn er öfters Wahlrückgänge in Europa erlebt, wenn er weder ein koherentes Projekt noch einen bewaffneten Arm hat, sei dieser sowjetisch oder anderartig, wenn ein verrücktgewordener Individualismus heute die postmodernen Geister in der sog. ³ersten Welt² prägt, ohne die geringste Ahnung von den potentiellen Katastrophen, der er verursachen kann, zu haben, wenn Yuppy-Geist und Burrowing des an sein virtuelles Weltchen angeschlossener Bürgers von der tatsächlichen Politik fernhalten? 

Wir sind gezwungen, diese Frage zu stellen, weil der Sozialismus, ob man es will oder nicht, ein gemeinschaftliches Reflex, eine Sehnsucht nach einer möglichen ideellen Gemeinschaft, ist und bleibt. Um ein realbanales Diskurs wieder anzukurbeln, könnten wir sagen, daß der Mensch kein auf-sich-bezogenes oder nur auf seiner eigenen Ichheit bezogenes Wesen ist. Der Mensch ist immer Kind von Eltern, Enkelsohn oder Enkelin, Bruder oder Schwester, Vater oder Mutter, Vetter oder Kusine, Nachbar(in), Kolleg(in). In diesem Sinne, kann der Mensch das Wohl seiner Gruppe oder der Gruppen, in denjenigen er lebt, handelt und arbeitet, wollen, und dieses Gemeinwohl über sein Eigenwohl stellen. So wie alle Anhänger der großen Weltreligionen und auch des klassischen Humanismus, kann ein Mensch sein Eigenwohl für seine Kinder, für eine Sache, für alle mögliche Motive, die die reine Ichheit transzendieren, opfern. Die menschliche Intelligenz und das menschliche Instinktgedächtnis (zwei Qualitäten, die sich nicht unbedingt ausschließen, und die nicht notwendigerweise heterogen sind) können also Opfer für eine künftige bessere Zeit, das noch zu kommen ist, fordern. Der Mensch handelt nicht nur und immer in einer Gegenwartsbezogene Perspektive, aber zielt öfters langfristiger, sieht voraus, wettet auf die Zukunft der Seinen. Wenn ich diese höheren Realbanalitäten aufzähle, die Anthropologen und Soziologen allzugut kennen, ist mein Ziel, darauf aufmerksam zu machen, daß philosophische und volkswirtschaftliche Systeme, die hartnäckig einen methodologischen Individualismus befördern und die die Marotte der political correctness überall aufdrängen wollen, abwegig sind. 

Ein Teil der Anhänger der Aufklärungsideologie versuchte ab dem 18. Jahrhundert diese individualistische Methodologie in der alltäglichen politischen Praxis einzuleiten. Andere haben in Kielwasser der aufgeklärten Despoten die Grundlagen einer Sozialpolitik unterstützt. Diese Figuren der Aufklärung erscheinen uns heute viel positiver als die sog. Ideologen rund Destutt de Tracy oder die Philosophen der Pariser Salons. Andere Figuren in Kielwasser von Herder und dem Sturm und Drang haben eine Emanzipation der Menschen und Seelen durch Rekurs auf die ersten Wurzeln der Kulturen, auf die Kultur- und Literaturemergenzen, wo die Identität völlig originel und schön unbefangen erscheint, vorgeschlagen. Wenn wir die individualistische Methodologie, die von bestimmten Aufgeklärten entwickelt wurde, kritisieren, verwerfen wir nicht deshalb alle Aspekte dieser Aufklärung, nur diejenigen die eine unweise Entwicklung gehabt, allerlei fehlerhafte Funktionnierungen gezeigt und eine schematische Ideologie aufgedrängt haben, die heute als Grundlage der konventionellen Pflichtsprache, d.h. der ³Baumwollsprache der Softideologie², wie der heutige französische Philosoph François-Bernard Huyghe sie nennt, oder das altbekanntes Newspeak  Orwells (in seinem weltberühmten Roman 1984)  dient. Wir lehnen dann auch konsequent diese Aspekte der Aufklärung ab, die heute Anlaß zu einem jedes Debatt ablehnenden Diskurs geben, d.h. ein Diskurs, das weiter zum heutigen political correctness  führt. Im Gegenteil, denken wir, daß ein doppeltes Rekurs auf denjenigen Facetten der Aufklärung, die das heute herrschende Diskurs vernachlässigt, das Debatt wieder ankurbeln und realpolitsche Alternativen für unsere Zeitgenoßen, die sich in Sackgassen geirrt haben, vorschlagen könnte. 

Das fehlerhaftes Funktionieren des aufklärerischen Gedankengutes läßt sich auf verschiedenen Ebenen der Geschichte Europas während der zweihundert letzten Jahre beobachten. Nämlich in:

- all den von der ³Uhrwerk-Metaphore² bzw ³Machinen-Metaphore² abgeleiteten Ideologien. Diese mechanistische Metaphore ist immer Indiz einer mechanistischen Anschauung der politisch-sozialen Beziehungen, wobei jedes Individuum als einfaches auf sich geschloßenes Rädchen, das neben anderen Rädchen gesetzt werden kann, betrachtet wird, ohne daß irgendwelche Abstammungsfolge in Rechnung getragen wird. Die individualistischen Trends der Aufklärung sind mit dieser metaphorischen, schematischen und machinenhaften Anschauung der politisch-sozialen Beziehungen eng verknüpft. Gegen diese mechanistische ³Uhrwerk- bzw. Machinen-Metaphore² entwickelten zeitgenößische Philosophen eine organische ³Baum- bzw. Pflanze-Metaphore², die von den Mechanisch-Aufgeklärten radikal abgelehnt wurde, obwohl diese Vorläuferin der Romantik und aller politisch-organische Denkmuster war, die nicht blind allen Abstammungsprinzipien gegenüber bleiben wollte; 

- den Maßnahmen, die die Assemblée nationale in Frankreich zur Zeit der Revolution gegen alle Zunftwesen und Koalitionrechte zugestimmt und getroffen hat; der hyperzentralistischen Organisation des Territoriums der damaligen neuen Republik, mit Bürgemeister (= ³maires²), die statt den städtischen oder dörflichen Gemeinde eher die Pariser Zentralmacht vertraten; der Einführung eines wesentliches individualistischen Recht überall in Europa wo die revolutionären und später die bonapartischen Armeen ihre Zelte geschlagen haben; diese Maßnahmen haben viele gegenrevolutionären Denker tief empört, so daß diese eigentlich die einzigen damals waren, die sich für die soziale Gerechtigkeit engagiert haben. Diese geschichtliche Tatsache findet trotzdem kein Echo in der heutigen üblichen Geschichtschreibung; 

- das erste Auftreten der industriellen Revolution in England findet statt unter dem Motto eines erzindividualisierten Rechtssystems; später dehnt sich dieses System weiter auf dem Kontinent; 

- die Volkswirtschaftslehren, die damals erarbeitet wurden, beruhen auf mechanistischen und individualistischen Methodologien; 

- der Sozialismus, der in diesem Kontext entsteht, hat als philosophisch-ideologischer Hintergrund ein Denken, das sich nur auf dem Boden des Mechanizismus und Individualismus des 18. Jahrhunderts ernährt; diese Art Denken wird in dieser Perspektive als das einzige, das realwissenschaftliche ist, verkauft; 

Dieser fünffache Bündel von Tatsachen hat dazu geführt, daß der Sozialismus bzw. Kommunismus der II., III. und IV. Internationalen, und seine zahlreichen Spaltungen, Splittergruppchen und Dissidententümer, die mechanistischsten, maschinistischen und anorganischen Ideen der Aufklärung übernommen und alle anderen Strömungen des emanzipatorischen Aufklärungszeitalters als ³gegenrevolutionär² verworfen haben, eben wenn diese pragmatischer, organischer und kulturtragender waren. Wenn der Sozialismus heute in seiner radikalsten Fassung (d.h. der Kommunismus bolschewistischer Prägung) zusammengebrochen ist, ist es eben darum, weil er eine echte Glaube in dieser mechanistischen Ersatzreligion entwickelt hat. Dieser Ersatzreligion behauptete, sie sei die einzige, die ³wissenschaftlich² war, aber schon ab 1875, wenn Physiker das zweite Prinzip der Thermodynamik entdecken, konnte Sie ihre Pseudo-Wissenschaftlichkeit kaum noch rational beweisen. Deshalb gab es die Rede von einer ³bürgerliche (d.h. ³falsche²) Wissenschaft². Später haben die Quantenphysik, die Biologie, usw. die Kluft zwischen Wissenschaftlichkeit und politisch-ideologischem Sozialismus noch vertieft. Dieser Sozialismus hat trotzdem dem Zusammenbruch seiner mechanistischen Erkenntnistheorie ein Jahrhundert überlebt. 

Hätte der Sozialismus als Parteisystem, das in der europäischen Geschichte verankert ist, sich sofort den organischen Methodologien, die dem Denken eines Herders oder der deutschen Romantik zurückzuführen sind, angegliedert, wäre er heute noch ganz lebendig. Jede politische Praxis, die die individualistische Methodologie ablehnt, muß mit den mechanistischen Paradigmen abbrechen. Im 18. Jahrhundert wurden diese Paradigmen ideologisch-didaktisch mit Uhrwerk- bzw. Maschinenmetafern erklärt. Die Gegner dieser Argumentation verteidigten ihre Ansichten eher mit Baummetafern. Hier haben sich tatsächlich die Geister getrennt. 

Und in der Tat, die implizite Ideologie hinter den Baummetafern war demokratischer. Das bewegende Motorwesen einer Maschinen steht außerhalb der Maschine genauso wie der Despot außerhalb des Volkes, das er regiert und verwaltet, steht. Das bewegende Prinzip des Baumes, d.h. seine Energie-Quelle, seine erste Impulsion, liegt aber innerhalb des Baumes selbst. Der Baum besitzt in sich seine gestaltende und regierende Bewegung. Sein Leben entstammt nicht einem äußerlichen Agent, der ein Schlüssel- und Rädersystem aktionniert, damit er sich bewegt und so ³lebt². Ein realorganischer jedem Mechanismus fremder Sozialismus hätte seiner Prinzipien aus der Geschichte des eigenen regierten und verwalteten Volkes abgeleitet, und nicht aus einer trockenen, abstrakten,weltfremden und zeitlosen Philosophie. Die Geschichte bringt uns eben das bei, daß die sozialistischen Oligarchien den Irrtum begangen haben, aus dem Volke herauszutreten (die Annahme der anorganischen Philosophie, die durch die Uhrwerkmetafer illustriert wurde, ist in diesem Sinne der Heraustritt überhaupt) oder haben es versucht, ein anderes Volk als ihr Eigenes im Name einer äußerst hypothetischen ³internationalen Solidarität² zu regieren, ohne die innerlich-selbstbewegte Motivierung des Volkes zu verstehen oder noch verstehen zu wollen. Die Kritik eines Roberto Michels über die ³Verbürgerlichung, Verbonzung und Verkalkung² der sozialistischen Eliten am Anfang dieses Jahrhunderts oder die unerbittliche Satire eines George Orwells in seinem weltberühmten Roman Animal Farm,  in dem die regierenden Revolutionären die Schweine sind, die ³gleicher² sind als die Andere, sprechen für sich selbst und beweisen also, daß Sozialisten und Sozialdemokraten die Neigung zeigen, diesen politischen Fehler zu begehen, d.h. daß sie dazu neigen, schablonenhafte ideologische Muster anzunehmen und versuchen zu konkretisieren, was sie am Rande des Volkes stellt, wobei ihr offizieller behaupteter Sozialismus dann automatisch relativiert wird und endlich in der Praxis nicht oder nur linkisch verwirklicht werden kann. Die Oligarchisierung der sozialistischen Parteien ist ein permanentes Risiko für den Sozialismus an sich, u.a. weil die ³Bonzen² es weigern, sich in einer Volkssubstanz einzutauchen. Sie betrachten diese Volkssubstanz als irrational an sich, manchmal weil sie jedem reinen Schematismus einer endlos räsonnierenden Vernunft entrinnt. 

Heute erklären die Sozialismen verschiedener Prägungen, sie seien die Erben der Französischen Revolution. Diese bürgerliche Revolution aber hebt die Vereinrechte der Gesellen, Arbeiter, Hanswerker, Lehrlinge auf und schafft aller Zünfte, als einzige Vetretungsorgane des kleinen Volkes im ancien régime, beiseite. Gegen alle Vereinrechte und alle differenzierten Annäherungen der sozialen Fakte, führt die französische Revolution ein rein individualistisches Recht ein. Während des 19. Jahrhunderts versuchen die Arbeiter die traditionnellen Vereine durch Gewerkschaften wieder zu beleben. In England entsteht Anfang unseres Jahrhunderts ein Sozialismus gemeinschaftlicher Art: der Guild-Socialism.  Die Oligarchen der sozialistischen Parteien haben aber ihre wirkliche Ideologie verteidigt, die genau das Gegenteil des Sozialismus ist. Die endlosen und zahlreichen Brüche, Spaltungen innerhalb des sozialistischen Lagers und die unzählbaren Änderungen des linken Diskurs haben alle als Urgrund, eine eigentliche Abneigung des Arbeitertums gegen diesen abstrakten Individualismus der aufklärerischen und pseudo-revolutionären Ideologie. Heute, wenn die Parteienoligarchien, die ³Bonzen² im Wortschatz eines Roberto Michels, sich unbefriedigend benehmen und sich als Handlanger gewisser mafiöser Netzwerke erweisen (sowie in Italien mit Craxi oder in Belgien mit der Cools-Affäre), entsteht ein Unbehagen in der Basis: sozialistische Wähler wählen anders und gewisse linken Intellektuellen ändern ihre Paradigme, wobei man öfters eine Rückkehr zur Gemeinschafts-Idee feststellt. Heute spricht man wieder von ³Kommunautarismus² (cf. Walter Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?,  Campus, Frankfurt a.M., 1994), eben in den Vereinigten Staaten. Dieser Diskurs über den Kommunitarismus zwingt zur Wiederentdeckung von Beziehungen und Werten, die nur die Gegenrevolutionären zur Zeit der französischen Revolution und des bonapartischen Abenteuertums analysiert und vertreten hatten. 

Im allgemeinen erwähnen die Quellen der Geschichtschreibung über die sog. Gegenrevolution nur die gegenrevolutionären Autoren, die sich eingesetzt haben, um eine bloße Rückkehr zum ancien régime zu verwirklichen und um die früheren klerikalen und aristokratischen Eliten wieder im Sattel zu setzen, nachdem sie durch die Revolution umgestürzt worden waren. Aber unter den Autoren, die allgemein als Gegenrevolutionären gelten, gibt es diejenigen, die die alten Freiheiten und die autonomen Arbeitervereine restaurieren wollen und die dabei heftig die extreme Individualisierung des Eigentumsrechts im bürgerlichen Codex kritisieren, das ab 1789 allgemein in Frankreich eingeführt wurde. Am Ende wird dieses Recht stramm kodifiziert, was der ancien régime nie gewagt hatte, eben wenn eine langfristige Erosion aller gemeinschaftlich-solidarischen Traditionen seit ungefähr zwei Jahrhundert in Wirkung war. In Frankreich waren schon Autonomien aller Arten verschwunden; der Prozeß war dort schneller und früherer im Gang als irgendwo anders in Europa. Die Lage variierte aber in den verschiedenen Provinzen. Im Westen, die Feudalherren erheben umfangreiche Steuern aber im Lyonnais, in der Provence und in den Ländereien rund um Paris sind diese Steuern fast komplett aufgehoben worden. Einige Jahre vor der Revolution ist das Bauerntum als hauptsächliches Volksboden  ‹da die industrielle Revolution noch nicht stattgefunden hat, sind die Arbeiter noch quantitativ in der Minderheit‹  feindlich dem Steuersystem des Klerus und des Beamtentums gegenüber, aber will überall die Erhaltung der Allmenden, die frei zur Verfügung der gesamten Dorfgemeinschaften bleiben müssen. 

Wenn vor 1789 rebelliert wurde, war es gegen die Eigner von  titres seigneuraux (= wirkliches Innehaben des Landherrn) und gegen diejenigen die ein Privateigentum auf einer ehemaligen Allmende besassen. Man könnte also glauben, daß das französische Bauerntum am Vorabend der Revolution entschieden republikanisch ist, weil es gegen die lehnsherrlichen Privilegien rebelliert, die die uralten Allmendrechte eingreifen. Aber ihre Forderungen werden kurz nach dem großen Ereignis der Revolution wiederholt, da die revolutionären Versammlungen die Steuern noch erhöhen und Ende 1790 eine Grundsteuer einführen, die viel höher als die, die unter dem ancien régime  galt. Der Historiker Hervé Luxardo schreibt, daß eine Revolution innerhalb der Revolution stattfand. Das Bürgertum stürzte den ancien régime  in den Städten, festigte seine eigene Macht und empörte so ein Bauerntum, das kurzfristig seine Feindschaft den Edelleuten und den Bürgern (die Eigner ehemaliger Allmendgründe geworden waren) gegenüber jetzt gegen die neuen Eigner richtete, die sog. foutus bourgeois  (= verdammten Bürger), wie ein rebellierender Bauer der Dordogne 1791 sie wütend mit der Flinte in der Hand nannte. Die empörten Bauern machten keinen Unterschied zwischen einem königstreuen Edelmann und einem erzrepublikanischen Besitzbürger. Und wenn der neue Revolutionsstaat den Grundbesitz der Kirche (biens nationaux  genannt, d.h. ³Nationale Güter²) an Privatpersonen verkauft, statt Felder, Wiesen, Wälder oder Brachländer den Dorfbewohnern wieder auszuteilen, erhitzen sich die Geister im Westfrankreich und die ersten Erhebungen der Chouans  finden in der Bretagne und der Vendée statt. 

Noch schlimmer, erklärt uns Luxardo, die Constituants (Abgeordneten der konstituierenden Versammlung) schaffen die letzten übriggebliebenen traditionnellen Volksversammlungen in Dezember 1789 ab, wo alle reichen wie armen Familienhäupter wählten, und ersetzen diese durch Munizipalitäten, die nur durch die sog. ³aktiven Bürger², d.h. nur die Reichsten, gewählt worden waren! Diese Maßnahme hätte die Legende einer demokratischen französischen Revolution beenden müssen. Von dieser Zeit ab regeln diese vom Volk getrennten Notabeln alle Kollektivrechte nach ihrer Laune: am 28. September 1791, setzten die neuen Machthaber ein Landcodex (Code rural)  fest, wobei das Recht der ärmsten Dorfbewohner, die Brachfelder, Wiesen und Allmendwälder zi benutzen, zunichte gemacht wurde. Dieser Reservenaturraum diente im Falle von Not und Hunger,besonders in Winterzeit, die Ärmsten zu ernähren. Die Allmenden waren die soziale Sicherheit dieser Zeit. René Sédillot, ein französischer Historiker, der seine Kritiken der Revolutionszeit gegenüber nicht spart, schreibt in Le coût de la révolution française:  "Von dieser Zeit ab, war es den Greisen, Witwen, Kindern, Kranken, Krüppeln, Hungerleidenden nicht mehr erlaubt, Ähren nach der Ernte zu sammeln, von den zweiten oder dritten Heuernten zu genießen, Strohhalme zu sammeln, um Better zu machen, Trauben nach der Weinlese nachzulesen, Gras nach der Heuernte zu harken (...) Den Herden war es auch nicht mehr erlaubt, freien Zugang zu den Stoppelfeldern, Brachackern und Brachfeldern, zu haben". 

Zusammenfassend, mit einem einzigen Federstrich, schaffen die bürgerlichen Constituants  die einzige soziale Sicherheit, die damals die ärmsten Bevölkerungsschichten hatten. Das Verschwinden der sozialen Sicherheit verwandelt die armen Schichten in sog. ³gefährlichen Schichten², wie die polizeiliche Terminologie sie von dann ab benannte. Sehr schnell konnte das Land alle Dorfbewohner nicht mehr ernähren, so daß ein Exodus nach den Städten und Kolonien anfing. Die proletarisierten Massen entwickelten dann notwendigerweise aus Verzweiflung einen agressiven Sozialismus. 

In den Städten, war das Handwerk in Bruderschaften (confréries) mit Meistern und Gesellen organisiert. Die compagnonnages (Gesellenverbindungen) waren nur für die Gesellen da, damit sie ihre Forderungen den Meistern beibringen konnten. Diese Gesellenverbindungen organisierten die Solidarität zwischen Gesellen und veranstalteten Streike, wenn ihre Forderungen kein Gehör fanden. Der Constituant  Isaac Le Chapelier schlägt ein Gesetz vor, das es verbietet, rechtsmäßig Syndiken zu wählen oder zu ernennen, Gewerkschaften sowie alle anderen möglichen Vereine zum Zweck, die Interessen der Lohnarbeiter zu verteidigen, zu gründen. Sédillot schreibt dazu: "Das Gesetz Le Chapelier vom 14. Juni 1791, setzt ein Ende an alle Freiheiten der Lohnarbeiter und Handwerker. Später ignoriert das Zivilcodex jede Form von Arbeitsgesetzgebung. Bonapartes Consulat führt die polizeiliche Kontrolle der Arbeitskräfte ein, indem es das sog. ³Büchlein² auflegt. Keine einzige linke Partei oder Bewegung ist also heute glaubwürdig, wenn sie zur gleichen Zeit sich als Erbe der französischen Revolution, als Vetreterin ihrer Ideologie stilisiert und sich als Verteidigerin der Arbeiterklasse. Der soziale Kampf des 19. Jahrhunderts insgesamt ist de facto  ein Protest und eine schärfste Ablehnung dieses Le Chapelier-Gesetz. Philosophisch darf gesagt werden, daß die mechanistische Ideologie der ersten französischen Republik zur Zeit der ³Großen Revolution² unfähig ist, die verschiedene Arten der Solidarität zu sichern, und eine umfangreiche soziale Regression zur Folge hat. 

Die Ereignisse der französischen Revolution und die Ankunft der industriellen Revolution in England lassen ein neues Wirtschaftsdenken mathematisch-arithmetischer Natur entstehen, dessen bestes Beispiel das Ideensystem Ricardos war. Mit keinem einzigen historischen oder geographischen Kontext wurde in diesem Volkswirtschaftsdenken Rechnung gehalten. Nur mit der deutschen ³historischen Schule², dem Kathedersozialismus und dem (meist amerikanischen Institutionalismus fing man an, mit kontextbezogenen Elementen, sei diese historischer oder geographischer Art, im Volkswirtschaftsdenken Rechnung zu halten. So wurde die abwegige Idee ruiniert, daß nur eine einzige wissenschaftliche Volkswirtschaftslehre universal alle Wirtschaftsysteme der Erde lenken konnte. 

Konsequenterweise ist der Sozialismus eine Reaktion gegen die Aufklärung, zumindest gegen die Aufklärung so wie sie durch die französische Revolutionären und insbesonderes durch Constituants wie Le Chapelier interpretiert wurde. In diesem Sinne ist der Sozialismus, zumindest in seinen Gefühlen am Anfang seiner Geschichte, grundsätzlich konservativ, indem er organisch-konkrete Freiheiten, Allmenden und verschiedenartige Typen von Gesellenverbindungen konservieren bzw. bewahren will. Diese Gefühlen waren gerechtigt, d.h. justi (justus stammt von ius, Recht). Aber wenn der Sozialismus, den wir heute kennen, sich fehlentwickelt hat und eine Injustitia, eine Ungerechtigkeit oder eine Gaunerei geworden ist, es ist weil er die Gefühle des Volkes verraten hat, in gleicher Art, wie die französischen Revolutionären ihre Bauern verraten hatten. Ein Sozialismus, der Sinn hätte für Geschichte und organische Fakten, der sich auf eine Volkswirtschaftslehre stützte, die Erbin der ³historischen Schule² bzw. des Kathedersozialismus wäre, muß sich als Nachfolger dieses falschgewordenen ent-kontextualisierten und mechanistischen Sozialismus emporzustreben, und sich entschieden von allen mathematisch-arithmetischen Wirtschaftslehren und allem französisch-revolutionären Gedankengut distanzieren. 

Robert Steuckers,
November 1994. 

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- Raymond WILLIAMS, Culture and Society 1780-1950, Penguin, Harmondsworth, 1961-76.

 

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